„Ein Mann muss ein Geheimnis haben“
Das Galli Theater zeigt mit „Die kleine Seejungfrau“ und „Aladdin und die Wunderlampe“ zwei Märchen für Kinder.
von Per Kreutzberger
Ohne Happy End – so endet Hans Christian Andersens berühmtes Märchen „Die kleine Seejungfrau“. Und so endet auch die Fassung des Galli Theaters Berlin überraschend. Überraschend, weil die populäre Disneyfassung von 1989 dem originalen Finale längst den Rang abgelaufen hat. Welchem Kind möchte man schon zumuten, dass die Heldin am Ende nicht den Prinzen bekommt, sondern – vielleicht – eine Seele?
Die Bühne schimmert blau: Hier, im Meer (darauf weisen auch die angehefteten Fische hin), spielt sich die Handlung um die kleine Seejungfrau ab, die sich in ihrer jugendlichen Naivität in den ersten Menschen verliebt, den sie sieht – und in die Idee, eine Seele zu erlangen. Letztlich kostet sie dieser Traum das Leben. Sie kann weder ins Meer zurückkehren, noch hat sich ihre Fantasie erfüllt, dass der Prinz sie liebt und ihr gehört. Selbst um sich zu retten, ist sie nicht in der Lage, ihn umzubringen. Lieber opfert sie sich selbst.
Dem dreiköpfigen Galli-Ensemble gelingt es dabei, sich in dieser schlichten Kulisse von der populären, aber süßlichen Disney-Variante zu distanzieren und mit eigenwilligen Charakterzeichnungen Akzente zu setzen. So ist Thomas Matuszewski als Prinz kein charmanter junger Gentleman, sondern ein verwöhntes, egozentrisches, blauäugiges Muttersöhnchen. Die Verlobte des Prinzen ist mit Sina Haarmann keine Märchenprinzessin, sondern eine eifersüchtige, vorlaute und arrogante Person. Die einzige Figur, die sich in ihrer Charakterisierung am Andersen-Original orientiert, ist mit Rebecca Corcodel die Seejungfrau selbst.
Mit sehr einfachen Mitteln wird hier die Geschichte auf das Essenzielle reduziert. Mit gelegentlich leicht überspitzem Spiel, aber überzeugend, stellen alle Darsteller:innen ihre Rollen dar. Als besondere Überraschung entpuppt sich hier Sina Haarmann, die in mehreren tragenden Rollen auftritt. Sie spielt alle grundverschieden und verlässt die Bühne nur, um sich schnell umzuziehen.
Obwohl „Die kleine Seejungfrau“ durch Spiel und Dauer auf die Kinderzielgruppe hin inszeniert ist, kommen auch junge Erwachsene und ältere Zuschauer dank witziger Kommentare etwa über klassische Genderrollen auf ihre Kosten.
Was für ein Kontrast zu „Aladdin und die Wunderlampe“, ebenfalls am Galli Theater. Derselbe Regisseur (Johannes Galli), derselbe Komponist (Michael Summ), dasselbe Ensemble. Wieder beruft sich das Team auf die Grundstruktur des Originalmärchens, nicht auf die Disney-Version. Diesmal ist auch die Ausstattung aufwändiger: Mit dem Hause Aladdins, der Zauberhöhle, dem Marktplatz, dem Palast des Sultans und dem Palast Aladdins gibt es etliche Schauplätze, außerdem zahlreiche Requisiten, Prospekte und auch eine Gaze.
Allerdings sind die Rollen hier äußerst eindimensional angelegt. Wo „Die kleine Seejungfrau“ durch Charme und Witz überzeugen konnte, wirkt die Geschichte hier zum größten Teil flach. Statt Figuren zum Mitfiebern gibt es stereotype Darstellungen der Charaktere und klischeehafte musikalische Untermalung. War es wirklich notwendig, die Prinzessin bauchtanzend auftreten zu lassen oder den Sultan als eingebildet und geldgierig zu zeigen, der Aladdin seine Tochter praktisch verkauft?
Einmal beschreibt Aladdin dem Flaschengeist, welche Attribute seine Traumfrau haben soll. Seine Kriterien: roter Mund, Haut weich wie ein Pfirsich, nach Rosen riechend... Sicher sind manche Beschreibungen der Märchen aus 1001 Nacht stereotyp. Aber dass der Flaschengeist mit einer tatsächlichen Checkliste neben Aladdin steht, hilft der Szene auch nicht weiter.
Überhaupt, die Rollenklischees: Im dritten Akt lässt sich die Prinzessin die Wunderlampe klauen, weil sie nicht weiß, wie wichtig sie für Aladdin ist. Er hat es nicht für nötig gehalten, sie – mit der er seit mehreren Jahren verheiratet ist – zu erzählen, welche Rolle die Lampe in seinem Leben gespielt hat und wie wichtig sie ist. Seine Begründung: „Ein Mann muss auch ein Geheimnis haben. Sonst ist er kein Mann“. Nach einer eher dahinplätschernden Auseinandersetzung endet das Stück plötzlich mit einem Happy End: ein letztes Duett zwischen der Prinzessin und Aladdin.
Auf den ersten Blick ist der Unterschied zwischen beiden Inszenierungen klein: Beide basieren auf klassischen Märchen, präsentieren Lieder, eine Geschichte, die für Kinder leicht verständlich ist und eine Moral. Wo allerdings „Die kleine Seejungfrau“ es schafft, trotz einfacherer Mittel die Geschichte in die heutige Zeit zu bringen, erweckt „Aladdin und die Wunderlampe“ den Eindruck, dass die Zeit stehengeblieben ist. Auch ein Märchen ist kein Grund für Rollenbilder und Geschlechterstereotypen aus der Mottenkiste.