„Wir sind die Stadt“
Mit ihrem Audiowalk „RECLAIM THE STREETS“ lotsen Marius Zoschke, Marie Pooth & Felix J. Mohr die Teilnehmenden durch ein politisiertes Schöneberg.
von Sara Rosenkranz
Welches Geräusch ist real, welches kommt aus den Kopfhörern? Ich habe Autos und Krankenwagen im Ohr und auf der Straße vor Augen. Meine Wirklichkeit und die der Audiospur vermischen sich. Schon nach zwei Minuten bin ich reizüberflutet – gucken, zuhören, laufen, aufpassen?
Die Sprecher:innen des Audiowalks „RECLAIM THE STREETS (mobile Edition)” lotsen die Teilnehmenden vom S-Bahnhof Schöneberg über die Julius-Leber-Brücke zum Gleisdreieckpark. Marius Zoschke, Marie Pooth und Felix J. Mohr machen mit ihrem Projekt darauf aufmerksam, wo heute die lange als Teil eines autogerechten Berlins geplante Westtangente verlaufen würde, wie der Bau der Autobahn verhindert wurde und was Bewohner:innen der Stadt machen können, um sie grüner und sicherer zu gestalten.
Die Audiodatei besteht größtenteils aus einem Gespräch zweier Sprecher:innen. Sie lassen mich daran teilhaben, wie sie die Strecke zum ersten Mal ablaufen und sich unterwegs mit diversen Menschen über Möglichkeiten der Kiezgestaltung unterhalten. Dazu gesellen sich Hintergrundgeräusche, Musik und hörspielartige Abschnitte, die zum Beispiel einen geschichtlichen oder politischen Kontext schaffen.
Jedes Mal, wenn ich kurz davor bin, mich in meinen Beobachtungen zu verlieren, werde ich von den Stimmen wieder auf die Realität hingewiesen: „Welche Ziele würdest du verfolgen?“ Auf dem Podium im Cheruskerpark heißt es: „Zeig uns deinen Widerstand. Nimm eine Superheldenpose ein“, bevor Stimmen zu hören sind, die für eine grünere und fußgängerfreundlichere Stadt demonstrieren. So macht der Audiowalk mich auf mein Umfeld aufmerksam, fordert mich dazu auf, etwas zu bewegen und bietet dafür gleich Beispiele an: Kiezlots:in werden, einen Nachbarschaftsgarten anlegen oder Straßenabschnitte stilllegen, etwa durch Demos oder friedliche Besetzungen.
Auf diese Art und Weise ist zum Beispiel der Crelle-Platz entstanden. Hier werde ich dazu aufgefordert, den Platz, der nun den Fußgänger:innen gehört, richtig auszunutzen. Zu „Hi Ha Ho“-Ausrufen sollen wir unsere Arme in die Luft werfen, springen und unsere Hüften kreisen lassen. „Das ist eine Performance“, sagt mein Begleiter. Aber nicht nur unser kleiner Tanz ist eine Performance, sondern alle Interaktionen im öffentlichen Raum – eine Performance auf einer Bühne, die wir mitgestalten können: „Wir sind die Stadt“, erklingt es in einem von Technomusik unterlegtem Beat für gut eine Minute.
Einmal fragt die Stimme im Ohr, ob wir uns durch die Wegbeschreibungen und Aufforderungen fremdgesteuert fühlen. Es sei doch nichts anderes, als beispielsweise einem Navi zu folgen. Mit einem Unterschied: Während beim Navigationsgerät der Fokus in der Regel auf dem Ziel liegt, wird die Aufmerksamkeit hier auf den Weg und das direkte Umfeld gelenkt. Eine Maschine schlägt den effizientesten Weg vor. Diese Strecke wurde nach menschlichen Kriterien entworfen: Wo ist es besonders schön, sicher, spannend? Das ist eine schöne Abwechslung zum Durch-die-Straßen-huschen auf dem Weg zur nächsten Verabredung. Die informativen Elemente bilden dabei einen Rahmen, den man beim üblichen Spaziergang auch nicht bekommt.
Insgesamt ist „RECLAIM THE STREETS“ ein gelungener Audiowalk, der es schafft, die Teilnehmenden gute 90 Minuten über eine Strecke von circa fünf Kilometern gleichzeitig ganz nah und fern in und an die Stadt zu bringen. Er regt dazu an, beim nächsten Mal mit offenen Augen zu laufen – oder generell mehr zu laufen. Und vielleicht selbst ein Projekt anzupacken, um die Stadt oder das eigene Kiez zumindest ein bisschen lebenswerter zu gestalten.