„Kunst ist ein Schutz“
Auch das PAF-Rahmenprogramm läuft digital: In der Gesprächsreihe „IM RAUM“ diskutieren Expert:innen über den Stadtraum als Bühne.
von Ella Vandré
In einer Zeit, in der öffentliche Häuser pandemiebedingt geschlossen bleiben müssen, verlagert sich das soziale Leben in den städtischen Raum. In dem von der Dramaturgin und Kuratorin Melmun Bajarchuu moderierten „Gespräch #1 Stadtraum: Urbaner Raum als Bühne für die darstellenden Künste“ tauschen sich die Künstlerinnen Julia Lehmann von Studio Urbanistan und Mirrianne Mahn von yellowdressproudactions, zugeschaltet per Videokonferenz, über den Stadtraum als Bühne aus. Sie berichten über ihre Erfahrungen und werfen Problematiken auf: Wem gehört der öffentliche Raum? Welche sozialen Strukturen spiegeln sich im Stadtraum wider? Was wird durch die Lockdowns sichtbar?
Der urbane Raum ist nicht nur Schauplatz, sondern auch Akteur, so Lehmann. Er ist nicht planbar wie eine Theaterbühne und wird von vielen Faktoren – besonders vom Zufall – beeinflusst. Es stellt sich die Frage, für wen der öffentliche Raum gemacht ist. Er funktioniert nicht für alle Menschen gleich. Der Stadtraum kann als Bühne gerade dafür genutzt werden, Problematiken in sich selbst aufzuzeigen. Lehmann erzählt von einem Projekt über Obdachlosigkeit, bei dem sie ein Zelt aufgestellt haben, das direkt vom Ordnungsamt inspiziert wurde.
Mahn dreht die Perspektive: „In allen Räumen geht es mir darum, wer nicht da ist.“ Wenn marginalisierte Gruppen nicht vertreten sind, ist das ein Hinweis auf Diskriminierung. Hier gilt es aufzuschlüsseln, wie es dazu kommt, und Barrieren abzubauen. Wenn daran kein Interesse besteht, ist das nach Mahn auch in Ordnung. Aber dann müssen sich Veranstaltende auch entsprechend positionieren und die Reaktionen aushalten.
Kunst in der Stadt zu performen, bringt immer Gefahr mit sich. Lehmann spricht dabei von einem Zusammenspiel von drei Komponenten: dem Ort, dem sozialen Umfeld und der Performance selbst. Im Theater ist die Bühne ein Schutzraum, in dem alles möglich ist, so Mahn. „Kunst an sich ist ein Schutz.“ Bis zu einem bestimmten Grad funktioniert das auch im Stadtraum. Kunst irritiert die Sehgewohnheiten der Passant:innen. Doch wenn die Gewohnheiten zu sehr herausgefordert werden, löst sich der Schutzraum auf. Dann kommt es seitens der Vorübergehenden oft zu Übergriffen: Ein Darsteller wird dann plötzlich nur noch als der große schwarze Mann gesehen, der zu viel Raum einnimmt. Wenn in so einer Situation andere Zuschauende einschreiten, kann das die Performance aufwerten. Das Zusammenspiel von Kunst und städtischem Raum zu erkunden, ist sehr interessant, aber: „Die Kunst ist nicht wichtiger als die Menschen“, appelliert Mahn. Deshalb ist es wichtig, Schutzräume gegen Diskriminierung zu schaffen. Zunächst muss überhaupt ein Bewusstsein dafür geschaffen werden. Für Festivals bedeutet das konkret, in Security-Services und ein unabhängiges Awareness-Team zu investieren, das sich solidarisch zu den Betroffenen zeigt.
Lehmann bringt ein, dass Projekte im öffentlichen Raum immer auch neue Denkanstöße mit sich bringen. Durch die Pandemie werden soziale Unterschiede besonders sichtbar. Privilegiertere Menschen verlieren auf einmal Privilegien, die andere nie hatten. Mahn berichtet als schwarze Frau davon, schon immer mit Einkaufswagen in den Supermarkt gegangen zu sein. Während weiße Menschen ihren Einkauf problemlos im Jutebeutel zur Kasse tragen können, wird ihr Diebstahl unterstellt.
Perspektiven verschieben sich. Der öffentliche Raum wird mehr geschätzt. Wie verändert er sich? Erheben bisher marginalisierte Gruppen Anspruch auf mehr Raum? Mahn sieht die Pandemie in sozialer Hinsicht als Chance – für neue Perspektiven, Ideen und Kunstformen. Lehmann spricht den großen Wunsch danach aus, dass die sichtbar gewordenen Probleme nicht wieder verschwinden. Sie müssen Einfluss auf das Leben nach der Pandemie haben.