Haben wir unseren Namen vergessen?
Die Tanzvideoperformance „Kiskeya“ lässt die Kulturen Haitis und der Dominikanischen Republik aufeinanderprallen.
von Nick Krause
„Mir wurde gesagt, Haitianer essen Menschen.“ Tatiana Mejia und Estelle Widmaier stehen sich eine Weile so gegenüber – was wurde ihnen schon einmal vorgeworfen? – bis sie sich Rücken an Rücken im eigenen Körper winden und zucken. Die Sätze werden zu Wort-Schleifen. Weiß, dunkel, schwach, unterentwickelt, hell. Sind sie im Kampf gegeneinander oder gegen die Welt?
Mejia, Widmaier und Julio Joseph scheinen in „Kiskeya“ die ganze Zeit miteinander zu kämpfen. Doch sie nähern sich einander auch an. Ob aus dem Dunkeln empor, im bunten Scheinwerferlicht oder am Kaffeetisch; dort liegt eine Spannung in der Luft, die sich in der 50-minütigen Video-Performance durch ihre Abwechslung von Stimmung und Räumlichkeiten hält. Kiskeya ist der uralte Name der karibischen Insel mit zwei Nationen: Haiti und die Dominikanische Republik. In diesem von Tatiana Mejia geleiteten Tanzprojekt wird versucht, die beiden von Kolonialherrschaft geprägten Kulturen zueinanderfinden zu lassen.
Das Licht erzählt immer Teile der Geschichte mit. Es verhüllt und setzt in Szene. Als sich die drei Silhouetten vor drei Scheinwerfer abheben, pinkes Licht zu ihren Füßen, greifen ihre Hände durch den Lichtnebel. Was sie nicht verdecken, strahlt an ihren Köpfen vorbei in die Kamera, blendet zurück. Eine Silhouette findet die andere; zusammen drehen sie sich im hastigen Walzer in die Dunkelheit. Im Walzer wird auch gekämpft. Weggedrückt, aneinander gezogen, vorgedrängelt.
Plötzlich gibt es Kaffeeklatsch. Ein runder Tisch kommt von oben, an den sich zwei Leute setzen. Das Gespräch beginnt auf Spanisch. Es kommen zwei andere hinzu und die Sprachen wechseln im Fluss. Ça va? Hallo! What are we having? Kaffee? ¡Sí! Aber Kaffee ist nicht gleich Kaffee. Am Tisch werden die Mischungen empfohlen und verurteilt. Mit Milch? Pfui! Du tust Kakao rein? Und das ist viel zu viel Zucker! Bis es am Ende zur kleinen Sauerei wird, wenn die vier sich scherzhaft darüber streiten, welche der Zutaten ihrem Hautton am meisten entspricht, diese auf ihre Hände reiben und in die Tassen schütten. Da muss man schon grinsen.
Die Tisch-Einschübe dienen als unterhaltsame Übergänge zwischen den Szenen, sind darüber hinaus aber auch Darstellung multikultureller Freundschaften, in der man auf einer anderen Sprache antwortet als in der, in der die Frage gestellt wurde. Das Gespräch über Farbtöne bringt einen ins Grübeln: Warum soll gerade Milchkaffee den schönsten Braunton haben? Und warum bestehst du so darauf, zimtfarben zu sein, statt dunkelbraun oder schwarz?
Wenn die Performer:innen nicht reden, tanzen sie zwischen mit Tüchern behangenen Räumen und der Dunkelheit. Sie legen sich selbst die Hände auf die Augen, machen sich blind, reißen sie wieder von sich. Umarmen sich und halten einander in der schwarzen Leere. Wo fängt der eine Körper an und wo hört der andere auf? Mit buntem Stoff geschmückt beben sie zu unruhigen Trommeln. Sie scheinen gegeneinander anzukämpfen, dann gegen sich selbst als ferngesteuerte Marionetten, die nach ihrem eigenen Willen ringen. Es herrscht eine Elektrizität in ihnen, die bis in den Bildschirm hindurch dringt. Zum Ende singen sie harmonisch zwischen Kerzenlicht und Nebel – ein Gänsehautmoment: „Haben wir unseren Namen vergessen?“
Haiti und die Dominikanische Republik stehen als zwei der ärmsten und reichsten Länder der Karibik heute in einer komplexen, vom (Post-)Kolonialismus geprägten Beziehung zueinander. Weiß, dunkel, schwach, unterentwickelt, hell – so werfen sie sich das zu ihnen Gesagte einander in einer der Szenen vor, als wäre die jeweils andere Schuld. Aber: „I was told beauty is in the eye of the beholder. That the beholder has a white gaze.” So schauen die beiden Frauen durch die Kamera direkt in die Augen der Zuschauenden. Gemeinsam gegen Rassismus, Kolorismus, Hass. Nicht gegeneinander.
„Kiskeya“ gelingt es sowohl durch die starken Performances und die schönen Szenenbilder als auch durch die Verschmelzungen der Tänze, der Musik und der Sprachen, eine Nähe zwischen den Kulturen herzustellen, balancierend zwischen Ernsthaftigkeit und Humor. Ein Augenschmaus mit Tiefgang, der einen mit einigen Gedanken zurücklässt.