Greif zur Feder, Kumpel!


Mit „Rot oder tot“ präsentieren sich ELEGANZ AUS REFLEX in der Introducing-Reihe des diesjährigen Performing Arts Festival. Regisseurin Carolin Millner über ihre Faszination für die DDR, sozialistische Utopien und den Medienwechsel vom Theater zum Film

von Per Kreutzberger

Carolin, mit ELEGANZ AUS REFLEX bearbeitest du häufig historisch-politische Themen. Warum thematisiert ihr mit „Rot oder tot“ die Geschichte der DDR?

Ich wurde in den letzten Atemzügen der DDR geboren. Nach der Öffnung der Mauer sind meine Eltern mit mir nach Westberlin und später nach Stuttgart gezogen. Dort wurde mir zuerst gezeigt, dass ich nicht dazu gehöre und später habe ich mich nicht mehr dazugehörig gefühlt. Daher kamen mir die Gedanken: Wo komme ich eigentlich her? Wie war das? Ich konnte das mit niemandem besprechen. Nicht mit meinen Großeltern, weil die eher zu denen gehört haben, die bedauert haben, dass die DDR oder dieser Versuch eines anderen Deutschlands gescheitert ist. Und die erstmal damit zurechtkommen mussten, dass das, was ihr Lebenswerk gewesen wäre, zu Bruch gegangen ist. Aber auch nicht mit meinen Eltern, die froh waren, dass das mit der DDR nicht funktioniert hatte und jetzt durchstarten konnten, die alles hinter sich lassen wollten. So habe ich auf beiden Seiten keine Antworten bekommen.
 

Wie ist daraus das Konzept für einen Abend geworden?

Die Initialzündung kam, als ich den Film „Sonnenallee“ gesehen habe und in mir eine Sehnsucht nach etwas aufgestiegen ist, dass ich überhaupt nicht formulieren konnte. Dann habe ich mich mit Theater, Bertolt Brecht oder auch Georg Büchner beschäftigt, aber gemerkt: Ich kurve geradezu besessen um dieses DDR-Thema in meiner Freizeit, schaue alle Filme, lese alle Bücher von Brigitte Reimann, Maxi Wander, Christa Wolf… Also versuchte ich für mich herauszufinden: Was will ich eigentlich? Die Filme haben eine bestimmte Ästhetik, die mir gefällt und auch die Schriftsteller:innen, mit denen ich mich beschäftigt habe. Für mich, in meinem Kopf waren auch die Arbeiter:innen sehr gebildet, sehr reflektiert über ihren Beruf, ihr Leben und den Staat, waren hochgradig politisiert, weil sie’s sein mussten: Man musste mit dem Betrieb ins Theater gehen. Dadurch hatte ich ein Gefühl: Die waren anders kultivierte Menschen, die sich dann abends nicht total fertig von der Arbeit vor den Fernseher setzen und sich berieseln lassen.


Anders als im Westen...

Ach, das war bestimmt in der Bundesrepublik nicht so viel anders. Aber genau das hat mich daran fasziniert. Außerdem hatte ich Fragen wie: Hätte denn die Entwicklung der DDR anders kommen können? Das haben wir dann als Gruppe als Sprungbrett benutzt. Auch weil viele Schauspieler:innen, mit denen ich arbeite, auch so eine DDR-Biographie haben, oder deren Eltern und Familie. Wir haben uns gesagt: Wir beschäftigen uns jetzt mit den vier Jahrzehnten der DDR und schauen, was überhaupt passiert ist, welche Entscheidungen getroffen wurden. Hätte man die auch anders treffen können? Daraus haben wir ein Spiel entwickelt.


Wie sah das aus?

Wir haben uns überlegt: Gehst du jetzt diesen oder den anderen Weg? Dann haben wir angefangen, die Stücke wie Baumdiagramme zu schreiben: Wenn die Mauer nicht gebaut wird, dann wandern alle ab, aber dafür passiert dann das und das. So dass mit jeder Entscheidung der Zuschauenden der Abend anders verläuft. Wir haben geschaut, was die Schriftsteller:innen oder andere Künstler:innen, aber auch Arbeiter:innen selber für eine Vorstellung von ihrem Land hatten, damit es besser funktionieren könnte. Wir haben uns auch die Frage gestellt, wie autonom und eigenständig die DDR eigentlich war, durch dieses Wirtschaftsembargo vom Westen und dadurch, dass die Sowjetunion da auch viel mitbestimmt hat. In welchem Rahmen konnte sie sich überhaupt wie bewegen?


Basiert der Stücktext auf historischen Quellen oder wurde alles neu für die Aufführungen geschrieben?

Wir haben Zeitdokumente genommen, um die Menschen dieser Zeit und ihre Konflikte verstehbar zu machen. Dabei war es mir wichtig, auf Schriftsteller:innen wie Thomas Brasch, Maxie Wander und Brigitte Reimann aufmerksam zu machen, die heute im deutschen Literaturkanon kaum vorkommen. In den 50er Jahren gab es den Bitterfelder Weg: Greif zur Feder, Kumpel! Da sollten die Arbeiter:innen mit Künstler:innen zusammenarbeiten, um vielleicht auch selbst Künstler:innen zu werden. Die Künstler:innen wiederum sollten sich zu einer bestimmten Kunstform bekennen: den sozialistischen Realismus. Die entsprechenden Debatten in Bitterfeld wurden dokumentiert. Nach solchen Dokumenten haben wir in jedem Jahrzehnt gesucht. Auch nach Tagebucheinträgen, Briefen, Filmen und Theaterstücken. Diese Dokumente haben wir so bearbeitet, dass eine bestimmte Form der Poesie und Sprache erhalten bleibt, die die Atmosphäre der DDR wiedergibt. Ich habe dann noch offene Lücken gefüllt und Szenen hinzugefügt mit dem Ziel, dass das alles zu einer Einheit wird.


Der Titel „Rot oder tot“ wirkt sehr eingängig. Wie ist er entstanden?

Der Titel geht auf ein Lied von Wolf Biermann zurück: „So oder so, die Erde wird rot. Entweder lebenrot oder todrot.“ Entweder wird sie rot, weil wir sozialistisch und bessere Menschen werden. Oder weil wir einander töten. In der Bundesrepublik gab es auch einen, ich denke CDU-Politiker, der meinte: „Ich bin lieber tot als rot“. Und bei Kritik am System, wenn sie mit ihrer Argumentation nicht weiterkamen, dann endete es mit: „Bist du für den Frieden? Oder gegen den Frieden? Denn wir sind für den Frieden und wenn du gegen uns bist, bist du auch gegen den Frieden.“ Damit war jede Diskussion beendet. So ist „Rot oder tot“ auch gemeint: Du musst dich entscheiden. Dafür oder dagegen. Das versuchen wir, über diesen Titel zu transportieren.


Hattet ihr von Anfang an den Plan, die verschiedenen möglichen Entwicklungen des Abends in einem Film zu kombinieren?

Zu Beginn hatten wir die Idee, man könnte alle einzelnen Szenen filmen und auf YouTube stellen, damit der Zuschauer oder die Zuschauerin entscheiden kann, wie’s weitergeht. Diese Idee war aber nicht finanzierbar. Aber wegen dieses Konzepts war die Filmregisseurin Teresa Hoerl sehr oft bei unseren Proben mit einer Kamera dabei. Deshalb gibt es diese Aufnahmen.


Ist aus diesem Material der Film entstanden, den wir beim PAF sehen?

Genau. Durch die Pandemie und das Reload-Stipendium der Kulturstiftung des Bundes hatten wir jetzt die Zeit, die 32 Stunden Filmmaterial auszuwerten und zu schauen, was davon erzählenswert ist. Wir hatten Glück und konnten Kai Minierski als Cutter gewinnen. Gemeinsam haben wir entschieden, was vom Material in den Film übertragen werden kann, so dass man einen Eindruck davon bekommt, wie die Theaterabende waren.


Bei den Theaterabenden beeinflussen die Entscheidungen des Publikums den Stückverlauf. Stimmt das Publikum per Mehrheit ab oder wer als erstes rein ruft?

Bei den Vorstellungen gab es keine Abstimmungssituationen. Sondern da haben die Schauspieler:innen in der Spielsituation jemanden angeschaut und gefragt „Okay, was denkst du: Sollen wir die Mauer bauen oder nicht?“. Wenn die Antworten sehr unklar waren, durften die Schauspieler:innen sagen: „Dann stimmen wir ab.“ Manchmal hat auch jemand reingerufen und wir haben das genommen. Es gab auch Zuschauende, die mehrmals gekommen sind, weil sie wissen wollten, wie eine alternative Version der Handlung aussieht.


Wie habt ihr diese alternativen Erzählmöglichkeiten in den Film übernommen?

Wir haben uns für die Szene entschieden, die am besten aussah. Deshalb haben wir leider auch nur eine angerissene Diskussion im Film. Die gab es viel öfter, aber leider war da das Bildmaterial nicht so gut.


Was sollte das Publikum der Theaterversion idealerweise mit nach Hause nehmen?

Es geht um Theater, um ein sinnliches Erlebnis, aber auch eine Form der Aufklärung. Ich wollte zeigen: Es gab nicht die ganzen 40 Jahre hindurch ein und dieselbe Diktatur. Sondern es gab Leute, die einen Entwurf für eine andere Gesellschaft hatten. Heutzutage fällt es uns schwer, für etwas Höheres zu kämpfen, für etwas, das sich in unserem Leben nicht mehr einlösen wird. Es gab viele Opfer des Nationalsozialismus, die sich einmischen wollten und daran geglaubt haben, dass das der bessere Teil Deutschlands ist und ihr Zuhause werden kann. Natürlich hat es auch eine Form staatlicher Erziehung gegeben, die vielen zu weit gegangen ist. Aber immerhin war man dem Staat nicht egal – anders als der Staat, in dem wir leben. Wer weiß schon, dass Jugendliche während des Prager Frühlings auch in Ost-Berlin auf die Straße gegangen sind und gesagt haben „Leute, das was da passiert, geht auf gar keinen Fall“?


Erhoffst du dir Ähnliches auch vom Film?

Ich glaube, dass der Film schon eine sehr klare Aussage dazu trifft, dass er die Angliederung der DDR an die Bundesrepublik nicht unbedingt befürwortet beziehungsweise das, was aus der sogenannten Wiedervereinigung geworden ist. Bei der Arbeit am Film ist mir noch einmal stark aufgefallen, dass die DDR immer nur ein Entwurf war. Es gab immer wieder Menschen, die versucht haben, sich von den Blutflecken des Stalinismus zu befreien und Dinge anders zu machen. Aber die Konsequenz war, dass das mit denen, die regiert haben, nicht ging. Und deshalb musste der Staat sich abschaffen. Eigentlich waren das 40 Jahre Anfangsphase, aus denen man nicht rausgekommen ist. Aber dass da welche waren, die sich immer wieder eingesetzt haben und einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz wollten, das erzählt sich hoffentlich.
 

Carolin Millner arbeitet als freischaffende Theaterregisseurin. Sie ist Mitbegründerin von studioNAXOS und Teil der Gruppe ELEGANZ AUS REFLEX. Hier schuf sie von 2017 bis 2019 „DIE PENTALOGIE ROT ODER TOT“. Des Weiteren führte sie ihre Tätigkeit u. a. seit 2014 an verschiedene Produktions- und Theaterhäuser wie dem Künstlerhaus Mousonturm, dem Badischen Staatstheater Karlsruhe, dem Landestheater Neuss, dem Schlosstheater Celle und dem Theater Magdeburg fort.