Fern der Heimat
Mit „Lob des Vergessens 2“ widmet sich Oliver Zahn den Widersprüchen des (Nicht-)Erinnerns.
von Ella Vandré
Der Cursor zuckt über den Bildschirm. Drei Elemente erscheinen auf dem Desktop: ein Textfeld, eine Tondatei, noch ein Textfeld. Im ersten steht „Das hier“, es folgt die Datei jki_0591-1_0008.wav, dann „ist ein Lied, das dafür gedacht war, an Leute wie mich weitergegeben zu werden“. Schnell markiert Zahn den Text, löscht und überschreibt ihn. Ihm selbst wurde das Lied nicht beigebracht. Er öffnet die Tondatei. Ein Mann singt: „Fern der Heimat irr als Flüchtling in der Fremde ich umher.“
Nachdem Zahn mit „Lob des Vergessens“ 2019 schon in den Münchner Kammerspielen aufgetreten ist, präsentiert er jetzt beim PAF „Lob des Vergessens, Teil 2“ als Desktop-Performance aus dem Ballhaus Ost. Als Nachfahre von nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebenen erforscht er Techniken des Vergessens und spürt Erinnerungslücken auf. Per Zoom teilt Zahn seinen Bildschirm mit den Zuschauenden und nutzt den Desktop als Kulisse für Textfelder, Tondateien und YouTube-Videos im Browser. Er tippt live in die Textfelder, löscht Buchstabendreher, beendet einen Satz, löscht ihn, überschreibt ihn. Zur Begrüßung richtet er sich direkt an die Zuschauenden und stellt sich vor. Obwohl oder gerade weil nur Zahns Bildschirm zu sehen ist, entsteht ein sehr persönliches Aufführungs-Erlebnis.
In einem immer wieder aufgerufenen Textfenster sammelt Zahn Techniken des Vergessens wie „Überschreibung“, die er beim Tippen gleichzeitig selbst praktiziert. Er zeigt ein digitales ethnographisches Tonarchiv, in dem er das zu Beginn abgespielte Lied über Vertreibung gefunden hat. Außer diesem Lied in verschiedenen Versionen gibt es keinen Ton in der Performance. Die Zuschauenden werden diese Melodie nicht so schnell vergessen.
Früher wurde großer Aufwand betrieben, um Erinnerungen zu erhalten. Macht das Internet Vergessen heute unmöglich? Zahn wechselt zu YouTube: Ein Vortrag der Soziologin Elena Esposito – ohne Ton. Zahn schreibt, was sie sagt: Das Vergessen funktioniert heute auf einem anderen Weg. Das Internet vergisst nicht. Aber die endlose Vermehrung an Daten macht es unmöglich, Informationen herauszufiltern. Im Internet müsste ein Rauschen erzeugt werden, das „es erlaube, eine offene Zukunft wiederzuerlangen (was ja der Zweck des Vergessens sei)“. Es kommt zu einer überraschenden Wendung: Zahn beendet seine dreiviertelstündige Performance auf eine unerwartete Art und Weise mit „einem Denkmal für Spammer:innen und Bots, Content Farmer:innen und Sock Puppets“.
Es gelingt Zahn, die Möglichkeiten von Theater in der Pandemie ausgefeilt für seine Inhalte zu nutzen. Ein Konzept, das inhaltlich auf seine eigene Form verweist.