Es gibt noch viel zu entdecken


Ein weiteres Mal findet das PAF überwiegend online statt. Aber was passiert, wenn die Theater wieder öffnen? Sollten wir diese neu entdeckten Gebiete des Online-Theaters wirklich wieder sich selbst überlassen? „DATA-Land“, „Befriending Ghosts“ und „Twin Speaks“ zeigen, dass das keine gute Idee wäre.

von Philipp Conrad

Digitales Theater – kann das funktionieren? Wie soll das aussehen? Wie soll dort ein Gemeinschaftsgefühl entstehen? Das Ausweichen in die digitalen Gefilde war für viele Theatermenschen lange mit Schrecken verbunden. Nach mehreren Monaten des notgedrungenen Umzugs ins Netz, nach zahllosen Aufzeichnungen und Livestreams hat sich bei vielen Ernüchterung eingestellt. Soll die performative Kunst sich jetzt aus der digitalen Seenot retten und nie wieder zurückblicken?

Nicht unbedingt! Über ein Jahr lang konnten sich Künstler:innen in den digitalen Räumen austoben und neue Formen für Performances erkunden. Diese Zeit der Neufindung trägt mittlerweile unzählige Früchte. Insbesondere in dem diesjährigen Performing Arts Festival Berlin zeigen unterschiedliche Künstler:innen und -gruppen, dass Performances im Netz nicht einfach nur „Theater, aber digital“ sein müssen. Indem sie sich der Mittel bemächtigen, die es so außerhalb des Internets nicht gibt, zeigen sie, wie sich mit Online-Aufführungen eine ganz eigene Welt gestalten lässt.

Ein häufiges Gegenargument zu digitalem Theater ist ja, sich zu Hause nicht so lange auf den Bildschirm konzentrieren zu können: die vielen Ablenkungen in der Wohnung, die mangelnde Aufmerksamkeitsspanne des digitalen Zeitalters – erst recht nach einem Arbeitstag vor demselben Bildschirm, über den jetzt die Kunst flackern soll. Vielleicht ist es aber auch einfach die fehlende Immersion und Involvierung in die Aufführung? „DATA-Land“ vom Borgtheater ist ein interaktives Spiel mit dem Ziel, sich selbst in einen digitalen Ort hochzuladen: Während der eigene Körper konserviert wird, sichert man sich ein von Sorgen und Reue freies ewiges digitales Leben, so die Werbung. Ein Traum! Der zerbröselt, je näher man dem Ziel kommt.

Erst aber muss man durchs Coaching: Charlotte Alten und Mandy Rudski werben am Computerbildschirm charmant für den digitalen Upload. Währenddessen muss das Publikum über die Handy-App Fragen beantworten. So fordert „DATA-Land“ vom Publikum die aktive Auseinandersetzung mit der Performance und ihren Inhalten, auch mit sich selbst.

Wer ist hier der oder die Akteur:in? Die Coaches, die die Antworten des Publikums als Sprungbrett nutzen? Oder das mitspielende Publikum, ohne das die Darstellerinnen ins Leere sprechen würden? Gegen Ende werden die Zuschauenden beziehungsweise Spielenden allein gelassen. Die Performance geht weiter, aber jede:r entscheidet für sich, ob der digitale Upload in die Idylle des unbeschwerten Egoismus wirklich ein Traum ist – oder ein Alptraum.

Nahezu komplett allein gelassen werden die Zuschauenden in „Befriending Ghosts“. Nach einem kryptischen Einstiegsvideo lässt die paranormal φueer group die Hand des Publikums los und jede:r ist auf sich allein gestellt, wenn er oder sie von einer Online-Plattform aus das Labyrinth aus Verbindungen und Internetseiten voller Geisterspuren erkundet. Alte Homepages, Archivseiten, YouTube, Jitsy – überall gibt’s Hinweise, Andeutungen, Spuren.

Anfangs wird man von der Menge der Links geradezu erdrückt; die scheinbar nicht zusammenhängenden Fragmente ergeben erst durch aktives Kombinieren ein stimmiges Mosaik. Trotzdem ist es niemals frustrierend. Im Gegenteil: Es ist geradezu motivierend, wenn man eine Sackgasse erreicht. Der eine Code muss doch irgendwo zu finden sein! Vielleicht im alten Zeitzeugen-Dokument? Oder doch in dem einen Werbe-Spot?

Bekannte Internettools wie YouTube und Google Maps wirken plötzlich geheimnisvoll; Geräuschkulissen ergeben sich durch gleichzeitig abspielende Videos. Man folgt auf Google Maps alten Spaziergängen, um einem längst vergangenen Mord nachzuspüren. Was wie eine Sackgasse wirkt, ist meist nur Schein: Wenn man sich die Mühe macht und genauer hinschaut, stößt man auf weitere Hinweise und Seiten.

Ein technisches Vorwissen ist zwar von Vorteil, aber keinesfalls eine Voraussetzung, da komplexere Schritte innerhalb der Spurensuche-Performance immersiv erklärt werden. Der Abend ist ein Spielplatz für jeden, der sich darauf einlässt. Es gibt einen klaren Rahmen, aber wer, was, wann und wie macht, ist allen selbst überlassen. Hauptsache man lässt sich auf das feinfühlige Herumschnüffeln im Netz ein.

Einen wesentlich lineareren Abend findet man bei „Twin Speaks“, der Telegram-Adaption der Gruppe vorschlag:hammer von David Lynchs fast gleichnamiger Serie „Twin Peaks“. Diese Performance erinnert im Vergleich eher an die gewohnten Theater-Livestreams, in denen die Zuschauenden keine großen Interaktionsmöglichkeiten haben und sich mehr dem Geschehen hingeben. Die Form jedoch ist besonders. Anstelle von Zoom-Calls oder des Streams einer Aufzeichnung spielt sich die gesamte Performance im Telegram-Chat ab. Nach und nach werden Videos, Sprach- und Textnachrichten in den virtuellen Raum geteilt, um den Krimi mitzuerleben.

Im Prinzip also Spannungstheater für die Hosentasche to go! (Wenn denn die Performance auf dem Smartphone angesehen wird.) Auch wenn die Zuschauenden nicht aktiv am Geschehen teilnehmen müssen, ist die Erzählung über einen Chat-Verlauf ein faszinierender Ansatz. Wenn zwei Figuren sich spaßend immer mehr Nachrichten hin und her schreiben und das eigene Handy am Dauerbrummen ist, dann ist das doch ein anderes Erleben als am großen Bildschirm oder im Theater, wenn sich die Schauspieler:innen die Antworten um die Ohren knallen. Dennoch ist dies nur ein Anfang. Denn in den virtuellen Chat-Räumen steckt immenses Potential für wesentlich intimere Blicke.

Hat digitales Theater eine Zukunft? Und wie! Die Performances beim diesjährigen PAF beweisen, wie lukrativ digitale Formate sind und welches immense Potential sie bereithalten. Sie machen digitale Räume nicht nur zum Thema, sondern erkunden ihre Grenzen: Coaching, um über sich selbst zu reflektieren. Eine Geister-Schnitzeljagd durch scheinbar unendliche Weiten des Netzes. Ein Krimi im Chat-Verlauf.

Aber sind diese Grenzen schon erreicht? Schwer zu sagen. Vielleicht wird diese Frage in einigen Jahren belächelt werden. Auf jeden Fall aber besitzen die digitalen Räume Potential, wie die unterschiedlichen Künstler:innen gezeigt haben. Mal schauen, ob sie dranbleiben, wenn die Theater wieder öffnen. Lohnen würde es sich. Es gibt noch viel zu entdecken.