Du bist schön!


Die „Cybersexhibition“ am FELD Theater ist so gut, dass Schulen damit ihren Aufklärungsunterricht ersetzen sollten.

von Georg Kasch

Früher lief das mit dem Aufklärungsunterricht so: In einer, manchmal auch zwei Unterrichtsstunden baute sich die Bio-Lehrerin vor der Klasse auf, zeigte fiese Querschnitte durch menschliche Unterleibe, rollte einer Banane ein Kondom über und warnte vor sexuell übertragbaren Krankheiten. Die Schüler kicherten, machten doofe Witze oder rollten mit den Augen. Dabei hatte niemand eine Ahnung, wie das wirklich ging mit dem Sex: Kriegte man vom Küssen AIDS? Machte gemeinsam Wichsen schwul? Sollte man möglichst früh Sex haben, um nicht uncool zu wirken? Oder war man dann schon eine Schlampe? Tipps gab's in geraunten Andeutungen unter Gleichaltrigen, als „Ich erklär dir die Welt“-Ratschlag vom großen Bruder und natürlich in der Bravo.

Bis ich begriffen habe, dass Sexualität sehr wenig mit dem Rein und Raus und sehr viel mit Selbstannahme, Achtsamkeit und Reden zu tun hat, mit sehr individuellen Bedürfnissen und zu oft noch immer mit einer großen Scham, überhaupt: dass man sich selbst nicht in Schubladen stecken muss, sondern offen bleiben kann für das, was kommt, musste ich viel älter werden, als ich das je für möglich gehalten hätte. Wie sehr hätte ich mit 13, 14, 15 eine Online-Performance wie „Cybersexhibition“ gebraucht!

Für seinen Aufklärungsabend hat das Team um die Performer:innen Christopher Schleiff, Jil Dreyer, Josef Mehling und Liza Jakob zusammen mit dem FELD Theater auf der Chat-Plattform Discord einen virtuellen Parcours gebaut. Mit Videos, Soundfiles, Texttafeln und sehr schönen Animationen, mit Chatmöglichkeiten und einem umfänglichen, aber auf die wesentlichen Informationen fokussierenden Glossar ergibt sich ein Mosaik, das alle mit Sexualität verbundenen Themen abdeckt: Körper, Emotionen, Genderfragen, sexualisierte Gewalt, Scham, Konsens, Selbstbefriedigung…

Dabei ist die Navigation auf Discord erst mal eine Herausforderung, zumal nicht ganz klar ist, was das hier eigentlich werden soll: Wie dialogisch ist das angelegt? (Kommt auf einen selbst an.) Ist man sicht-, hör-, identifizierbar? (Nein.) Wo muss ich klicken, damit ich an weitere Infos komme? (Unbedingt vorher das Erklär-Video gucken!)

Wenn man aber kapiert hat, dass sich keine Geschichte ergibt, sondern nur Bruchstücke, dass man mit niemandem interagieren muss, wenn man nicht mag, sondern in erster Linie gucken, zuhören, manchmal auch lesen, kann man sich auf individuelle Spurensuche machen. Der Hit sind dabei die meist clip-kurzen Videos, in denen sich das Kernteam, aber auch zusätzliche Expert:innen des Alltags sehr offen und (selbst-)kritisch mit konkreten Fragen auseinandersetzen wie „Ist eine Party gescheitert, wenn man hinterher alleine nach Hause geht?“ Und zwar immer als Antwort darauf, was sie selbst gerne als Teenager über Sex gewusst hätten.

Ganz gleich, ob man sich über den Körper informiert, über Geschlechtsidentitäten oder Gefühle, überall dringt die Botschaft durch: Erlaubt ist, was beiden Spaß macht, falls niemand sonst zu Schaden kommt. Noch wichtiger: Konsens ist das A und O. Nein heißt Nein, selbst wenn Körpersignale dagegensprechen. Auch wenn man mittendrin steckt, darf man abbrechen, wenn's sich nicht mehr gut anfühlt.

Außerdem vermittelt die Gruppe spielerisch, dass es so einfach nicht ist mit Männlein und Weiblein, mit Vagina und Penis, hetero und homo. Sondern dass Sexualität und Begehren so vielfältig sind und so individuell wie jeder Mensch selbst. Es gibt nicht die eine Wahrheit, den einen Weg. Was den einen erregt, kann beim anderen Brechreiz auslösen. Man muss halt drüber reden!

Dass diese Botschaften nie didaktisch rüberkommen, sondern wie die aufrichtige Erkenntnis von Leuten, die selbst aus Fehlern gelernt haben, liegt im Wesentlichen an den so lockeren wie sympathischen Protagonist:innen Mitte / Ende 20 in ihren Fellsesseln vor gemalter Blumenwiese. Sie sprechen uns direkt an und machen mitunter völlig vergessen, dass die Videos und Tonspuren nur Konserven sind. Einer der schönsten Momente ist, wenn Performer Christopher in einem Kürzest-Video die Botschaft vermittelt: „Also ich sag jetzt noch was über Schönheit: Du bist schön!“ Und ich sitze plötzlich vorm Computer und grinse breit.

Zugleich wird bei „Cybersexhibition“ die oft als Beschränkung wahrgenommene Verlagerung ins Netz zur großen Chance. Aufklärung in großen Gruppen verkommt gewöhnlich zur Coolness-Show. Hier aber, allein vor dem Bildschirm, in der Anonymität, kann man sich sicher durch alle Themenbereiche klicken, die einen wirklich interessieren, ohne dass Mitschüler:in XY oder Lehrer:in Z das mitbekommen würden. Und hat doch bei Bedarf geschulte Ansprechpartner:innen im persönlichen Chat zur Seite – anders als in den üblichen Foren, in denen man Glück haben muss, eine fundierte Antwort zu erhalten und nicht solides Halbwissen als letzte Wahrheit vermittelt zu bekommen.

Deshalb, liebe Schulen: Lasst das mit der Aufklärung lieber die Profis machen. Kauft euren Klassen jahrgangsweise Tickets! Das mit den Samen und den Eizellen oder das mit den sexuell übertragbaren Krankheiten könnt ihr immer noch im Bio-Unterricht abhaken, das kommt hier ein bisschen zu kurz. Zum Glück! Denn das macht Sex zu einer medizinischen Angelegenheit. Was der Abend stattdessen in 90 Minuten schafft, ist viel wichtiger: dazu einzuladen, sich mit dem eigenen Körper anzufreunden, Mythen zu hinterfragen und sich auf den oder die Andere:n einzulassen, so wie sie sind – unabhängig von Zuschreibungen, Geschlechtsteilen und Pronomen.